Christen und Muslime gestern und heute – Voraussetzungen für ein konstruktives Zusammenleben

Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Vortrag in der Arbeitsgruppe „Kultur“ im Rahmen des Journalistenseminars „Bildkorrekturen“; 14.–16.12. 2006, Feldafing/München.

Dialog und Kontroverse in der Geschichte

Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen beginnt keineswegs erst im 20. Jahrhundert mit dem europäischen Kolonialismus, den Golfkriegen oder der Arbeitsmigration nach Deutschland ab den 1960er Jahren, sondern bereits mit dem Stifter des Islam, Muhammad (570-632 n. Chr.). Schon der Koran legt von seinen Dialogen sowie Kontroversen mit Juden und Christen Zeugnis ab, da Muhammad nach seinem Auftreten als Prophet ab 610 n. Chr. in Mekka nicht nur unter den arabischen Stämmen, sondern auch unter der jüdischen und christlichen Minderheit auf der Arabischen Halbinsel um Anhänger warb. Das Bild, das der Koran von Juden und Christen zeichnet – z. B. dessen positive Aussagen über die Frömmigkeit und Gottergebenheit der Christen, aber auch sein weitgehend negatives Urteil über die Heuchelei und letztlich Gottlosigkeit der jüdischen Stämme – wirkt bis in die heutigen Dialogforen, aber auch bis in den Palästinakonflikt nach. Über Jahrhunderte hinweg war nach Muhammad die Beurteilung des „anderen“ begleitet von Ignoranz, Voreingenommenheit und Mißverständnissen – die erste lateinische Koranübersetzung entstand erst 1142, der erste Lehrstuhl für Arabistik in Europa 1539 und auch in den nachfolgenden Jahrhunderten waren Polemik statt sachlicher Auseinandersetzung die Regel. Dennoch wurde das theologische Streitgespräch in vergangenen Jahrhunderten generell viel intensiver gepflegt als heute – gleichzeitig hatten Voreingenommenheit und Ignoranz jedoch auch auf den gesellschaftlichen wie politischen Bereich Auswirkungen.

Wer sich fundiert mit dem Dialog zwischen Muslimen und Nichtmuslimen beschäftigen will, muss mit einigen Grundlagen der Geschichte und Theologie des Islam vertraut sein, denn muslimische Stimmen nehmen häufig auf diese frühislamische Zeit Bezug, indem z. B. in Dialogforen mit der milden Behandung der Feinde der ersten muslimischen Gemeinde durch Muhammad die Friedfertigkeit der islamischen Religion begründet wird. Gleichzeitig spielt der Koran als Rückbezug für die Beurteilung moderner Fragestellungen eine im Westen häufig unverstandene, d.i. viel wichtigere Rolle als dies im Westen vom Umgang mit dem eigenen religiösen Erbe her vorstellbar scheint (man lese nur einmal die gängigen Rechtsgutachten –Fatwas – muslimischer Theologen zu Fragen wie PID, Bluttransfusionen, Organtransplantantionen oder Leihmutterschaft – nicht ein einziges dieser offiziellen Gutachten kommt ohne Bezug auf den Koran oder die islamische Überlieferung aus.) Die Bedeung des „Sakralen“ ist also ein wesentlicher, sich heute eher verschärfender Unterschied zwischen beiden Kulturräumen.

Nach Muhammad setzte sich die christlich-muslimische Begegnung teils friedlich, teils kämpferisch fort, teils durch Handelsbeziehungen und Kulturaustausch – besonders als der Orient im Hochmittelalter Europa in Wissenschaften wie Mathematik, Astronomie oder Medizin weit überlegen war und ein im Vergleich zur heutigen Zeit viel offeneres theologisches Diskussionsklima besaß – teils aber auch durch Eroberungen und Kriege. Einerseits war in der Vergangenheit der Rechtsstatus jüdischer und christlicher Minderheiten im islamisch eroberten Gebiet per Vertrag geklärt und gab den Minderheiten meist größere Freiheiten als sie zum Vergleich etwa jüdische Minderheiten zur selben Zeit in Europa besaßen. Andererseits erlaubte die im islamischen Recht verankerte Definition von Toleranz und Religionsfreiheit nicht die Entwicklung eines jüdischen oder christlichen Bürgertums auf Augenhöhe, sondern machte Juden und Christen zu tributpflichtigen „Schutzbefohlenen“ (Unterworfenen) und verbot Muslimen bei Androhung der Todesstrafe, ihre Religion zu wechseln.

… und in der Gegenwart

Niemals zuvor in der Geschichte lebten Christen und Muslime so dauerhaft und so wenig „geplant“ miteinander in einem immer mehr und schneller zusammenwachsenden „globalen Dorf“. In Europa war das Zusammenleben wenig geplant aufgrund einer als „vorübergehend“ gedachten Arbeitsmigration seit Beginn der 1960er Jahre vor allem aus der Türkei zu einer Zeit, als Arbeitskräfte an den Hochöfen, im Straßenbau und im Bergbau gesucht wurden. Dauerhaft gestaltete sich das Zusammenleben entgegen aller Erwartungen, weil die stets von beiden Seiten angenommene Rückwanderung in die Herkunftsländer aus den unterschiedlichsten Beweggründen nie stattfand, ja die Zuwanderung durch Kriege und Krisen in zahlreichen Regionen der Erde (Bosnien, Iran, Afghanistan, Libanon u.a.) noch verstärkt wurde. So entstand eine wachsende muslimische Diaspora in Europa und damit eine Situation, die vor allem die Mehrheitsgesellschaft erst vor wenigen Jahren teilweise sehr zögerlich oder sogar widerwillig zur Kenntnis genommen hat, obwohl doch spätestens seit den 80er Jahren diese Entwicklung deutlich erkennbar war und zur Bewältigung der offenen Fragen (v. a. der Sprach- und Integrationsproblematik) besondere Anstrengungen hätten unternommen werden müssen.

Heute, in einer Zeit, in der die dritte Generation von Migranten in Europa lebt und die Region des Nahen Ostens unter manchen, auch mit der westlichen Welt verknüpften oder sogar mit-initiierten Konflikten (Afghanistan, Irak u.a.) leidet, stellen sich für ein gelingendes Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft neue Fragen und Herausforderungen. Diese Herausforderungen offen und sachlich zu thematisieren, um so zu einer fundierten Lösungsfindung beizutragen, ist das Gebot der Stunde. Lösungsansätze und Wege zu einer gemeinsamen Zukunft werden dann gewinnbringender ausfallen, wenn das Wissen über die Geschichte und die Bedeutung der Theologie, über Rechtsdenken und Traditionen hier wie dort vertieft und zum Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen einer Allgemeinheit vermittelt werden kann.

Notwendige Bildkorrekturen

Es scheint, als ob wir heute bei den wesentlichen Fragen, die unser aller Verständnis für den anderen und unser Zusamnenleben bestimmen, noch relativ am Anfang stehen. Gerade jetzt erst wird die gegenwärtige Situation – Europa ist und bleibt eine multireligiöse, multikulturelle Gesellschaft mit wachsender Tendenz – klar ins Auge gefaßt, aber noch ist ein vertieftes Verständnis der Kultur, Religion und Rechtstradition der Migrantengemeinschaft in all ihrer Vielfalt nicht wirklich Allgemeingut geworden, wie auf der anderen Seite sich ein Teil der Migrantengesellschaft bereits wieder von ihrer Teilhabe an dieser Gesellschaft abgewandt hat bzw. keine Chance auf Teilhabe erkennt.

Offene Fragen berühren aber nicht nur unterschiedliche Wahrnehmungen zwischen einer „westlichen“ und einer „muslimisch-nahöstlichen“ Sichtweise, sondern vor allem divergierende Auffassungen innerhalb der muslimischen Migrantengemeinschaft. Gerade jetzt wird die Welt Zeuge tiefgreifender Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten – die weder theologisch noch politisch als ausgestanden gelten können und ihre Wurzeln in der Frühzeit des Islam haben – aber auch in der Vergangenheit ergaben sich ähnliche Bruchlinien z. B. zwischen Anhängern der Ahmadiyya-Bewegung und Sunniten. Ähnliche innerislamische Diskussionen über den „eigentlichen“ Islam existieren zwischen Sunniten und Aleviten, wie auch über die „Konfessionen“ hinweg zwischen moderaten Reformern, liberalen Denkern und Vertretern eines politischen oder theologisch konservativen Islam. Hier fehlt – vor allem in islamischen Ländern – weitgehend ein offener Diskurs, ein freier Meinungsaustausch, eine Erörterung unterschiedlicher Standpunkte, ohne dass die Beteiligten mit Repressionen oder sogar Todesdrohungen rechnen müssen. Eng damit verbunden müßte eine besonders von arabischen Intellektuellen immer wieder angemahnte Reform des Bildungssystems sein, zur Loslösung von der einlinigen Perspektive des Sakralen, um Freiräume für Wissenschaft, kritische Forschung und Lehr- und Meinungspluralität zu schaffen. Meinungs- und Religionsfreiheit mit einem freien Wechsel in alle Richtungen würde eine modifizierte Definition von Menschen- und Minderheitenrechten herbeiführen, innerhalb derer Minderheiten nicht mehr nur den „Schutzbefohlenen-Status“ von Unterworfenen einnehmen könnten, sondern des Bürgers auf Augenhöhe, eine Vorausssetzung zur Schaffung einer prosperierenden Gesellschaft.

Unmittelbare Voraussetzungen wären eine Gewaltenteilung zur Schaffung bürgerlicher Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit, die Folge davon technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt, um den Anschluss an weltweite Entwicklungen zu bewältigen. Nicht davon zu trennen ist die Notwendigkeit, Frauen durch die Gewährung größerer Rechte und Freiheiten Zugang zum öffentlichen Bereich zu verschaffen, sei es über den Weg einer mit der Moderne kompatiblen Koraninterpretation oder sei es über eine Entsakralisierung des Familienrechts, da aufgrund des offiziellen Bezugs aller arabischen Länder auf die Scharia kein islamisches Land eine rein säkulare Familiengesetzgebung kennt.

Die besondere Verantwortung der Medien – Voraussetzungen für ein konstruktives Zusammenleben

Medien nehmen heute, zu Zeiten der Globalisierung eine Schlüsselstellung ein, und zwar weiter auch die Printmedien, die gleichzeitig elektronische Medien geworden sind. Medien haben auch im 21. Jahrhundert einerseits eine besondere Verantwortung darin, mit sensiblen Nachrichten auch sensibel umzugehen, um zur Verständigung und nicht zur Schürung von Konflikten beizutragen. Andererseits liegt ihre auch weiterhin wichtige Aufgabe auch darin, auch unbequeme Wahrheiten ans Licht zu bringen und täglich die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit oder die Freiheit zur politischen Willensbildung praktisch umzusetzen. Gerade in der Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Religionen wird die Frage nach möglichen Grenzen der Pressefreiheit nun neu diskutiert.In der Diskussion über Respekt und Achtung von weltanschaulichen Überzeugungen, die jedoch nicht zu einem „Artenschutz“ oder „Unberührbarkeitserklärung“ führen dürfen – was ein Ende der Pressefreiheit bedeuten würde, werden die Medien weiter Schlüsselstellungen einnehmen. Voraussetzungen für ein konstruktives Zusammenleben bleiben eine Beschäftigung mit der eigenen Geschichte und Tradition, eine ehrliche Bestandsaufnahme des Versäumten in 45 JahrenMigration, eine Definition des Unverzichtbaren für eine gemeinsame Zukunft auf beiden Seiten sowie die Erörterung gangbarer Wege der Verständigung in einem multikulturellen Europa.